Rotalgen
Laut einer Studie, die in der Fachzeitschrift PLOS-Biologie veröffentlicht wurde, gelten winterharte Rotalgen als die ältesten mehrzelligen Organismen der Erde. Fossilienaufzeichnungen reichen 1,6 Milliarden Jahre zurück. Das ist eine erstaunliche evolutionäre Erfolgsgeschichte, wenn man bedenkt, welch rauen Umweltbedingungen diese Organismen ausgesetzt sind. Viele Rotalgen überstehen die starken physikalischen Kräfte der Gezeiten, die geringe Verfügbarkeit von Nährstoffen, den extremen Salzgehalt des Wassers, die wechselnden Temperaturen und die Austrocknung zwischen Ebbe und Flut. Faszinierend ist, dass ein Teil ihrer evolutionären Widerstandsfähigkeit auf das Polysaccharid Agar in ihren doppelten Zellwänden zurückzuführen ist. Agar ermöglicht also das Überleben in dieser anspruchsvollen Umwelt.
Vom bescheidenen Seemoos zum raffinierten Reagenz
Agar ist – wie eingangs erwähnt –ein Biopolymer mit kommerziellem und wissenschaftlichem Wert. Der meiste Agar wird aus den Zellwänden der Rotalgenarten Gelidium und Gracilaria vor allem für den Einsatz als Nahrungs- oder Düngemittel gewonnen. Je nach Pflanze muss die Herstellungsprozedur angepasst werden: In kälteren Gewässern bilden sich dickere Zellwände, die mit einer verdünnten Säurelösung in einem Druckkochtopf aufgebrochen werden, um Agar zu extrahieren. Agar aus Gelidium-Arten wird aufgrund seiner natürlichen Gelierfähigkeit bevorzugt für bakteriologischen und pharmazeutischen Agar verwendet. Aus Gracilaria extrahierter Agar kann nach einer Alkalibehandlung verwendet werden.
Der Hauptbestandteil von Agar ist Agarose, ein lineares Biopolymer aus sich wiederholenden Agarbioseeinheiten. Biologen benötigen Agarose für die Chromatografie, die Gewebeeinbettung und insbesondere für die Elektrophorese. Normalerweise wird 1% Agarose in einem Puffer aufgelöst, erhitzt und in eine Platte gegossen. Nach dem Abkühlen bei Raumtemperatur entsteht genau die richtige Matrix zur Auftrennung von DNA-Molekülen. Die Porengröße der Agarosegelmatrix ist bei niedrigeren Konzentrationen größer. Höhere Agarose-Konzentrationen können hingegen die Probenauflösung verbessern. Die Agarose-Gel-Elektrophorese von Nukleinsäuren wurde weit verbreitet, nachdem der Molekularbiologie-Gigant Joseph Sambrook und seinen Kollegen am Cold Spring Harbor Laboratory 1973 Pionierarbeit geleistet hatten (siehe auch: P A Sharp, B Sugden, J Sambrook Detection of two restriction endonuclease activities in Haemophilus parainfluenzae using analytical agarose--ethidium bromide electrophoresis (1973) Biochemistry). Spätere elektronenmikroskopische Untersuchungen bestätigten, dass Agarose-Gele die DNA-Molekularmasse genau widerspiegeln, während die in Polyacrylamid-Gelen beobachteten Mobilitäten dies nicht tun. All dies zeigt, dass die Molekularbiologie den Rotalgen viel zu verdanken hat.
Agar-Knappheit und Nachhaltigkeit
Die Ernte von wilden Rotalgen ist problematisch. Die Situation spitzte sich 2015 zu, als Gelidium spp. von den Meeresböden in Japan, Marokko und Chile übermäßig geerntet wurde. Dies führte zu Engpässen bei der Versorgung mit Agar in mikrobiologischer Qualität, worüber auch in der Fachzeitschrift Nature berichtet wurde. Seitdem arbeiten Forschende daran, dieses Problem zu analysieren und umweltfreundliche Lösungen vorzuschlagen.
Erfreulicherweise hat die Nachhaltigkeit heute einen hohen Stellenwert in der Algenindustrie. Die Wildsammlung wird durch kultivierte Rotalgen ersetzt, die weltweit in Buchten, Flussmündungen, Riffgebieten und Teichen an Leinen, Seilen oder Netzen angebaut werden. Es wurden neue und verbesserte Agarose-Extraktions- und Reinigungsmethoden für eine umweltfreundliche Herstellung entwickelt. Große industrielle Hersteller wie Cargill und Hispanagar bemühen sich um mehr Nachhaltigkeit.
Die gute Nachricht ist, dass nachhaltige Aquakultur funktioniert. Eine Studie von The Nature Conservatory vom Juni 2021 bestätigte, dass Aquakultur positive Auswirkungen auf das Meeresleben hat. Während es in vielen Biologielabors noch zu Verzögerungen in der Lieferkette kommt, nimmt zeitgleich die nachhaltige Produktion zu. An der indischen Küste von Gujarat und in anderen Teilen der Welt wird die Aquakultur von agaroseproduzierenden Rotalgen untersucht. Wenn Biologinnen und Biologen nicht durch ökologische Bedrohungen behindert werden und sich auf die Entwicklung spannender neuer Anwendungen in den Bereichen Biokraftstoff, Kohlenstoffbiofixierung und Biokunststoffe konzentrieren können, profitieren am Ende alle von den Fortschritten.
Deshalb können wir heute und jedes Mal, wenn wir Agarose im Labor verwenden, den Bauern, Meeresbiologen, Ökologen, Chemikern und Herstellern für ihren gemeinsamen Einsatz in Sachen Nachhaltigkeit von Rotalgen danken!