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Mythen, Missverständnisse und umstrittene Theorien in der Biologie

5 min Tanja Kreienbaum

Forschungsstudien und neue Entdeckungen formen unser Verständnis der natürlichen Welt kontinuierlich neu. Herrschende wissenschaftliche Theorien können dabei verfeinert – und manchmal auch hinterfragt – werden.

Während dieser Zustrom an neuen Informationen wichtig für die Erweiterung des Wissens ist, kann er auch Mythen und Missverständnisse hervorbringen, die aus Vorurteilen, Medienfehlrepräsentationen und Verallgemeinerungen entstehen. In diesem Blog werden wir Missverständnisse erforschen, die die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verwischen, einige wissenschaftliche Mythen, die einfach nicht sterben wollen, und Theorien, über die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht aufhören können zu debattieren.

Menschen nutzen nur 10 Prozent ihres Gehirns

Dieser Mythos, der häufig durch Filme wie „Lucy“ mit Scarlett Johansson und „Ohne Limit“ mit Bradley Cooper verbreitet wird, hat unklare Ursprünge. Einige schreiben diese Pseudowissenschaft Albert Einstein zu, obwohl es dafür keine Belege gibt, während andere sie mit einer Fehlinterpretation von William James und seiner "Reserve Energy Theory" in Verbindung bringen (8).

Eines ist jedoch klar: Obwohl seine Herkunft ungewiss bleibt, ist die Vorstellung, dass Menschen nur ein Zehntel ihres Gehirns nutzen können, völlig unzutreffend. Aus Sicht der natürlichen Selektion ist es bereits unwahrscheinlich, dass anatomische Strukturen über die Zeit bestehen bleiben, ohne eine Funktion zu erfüllen. Außerdem, wenn dieser Mythos wahr wäre, würden die meisten Gehirnverletzungen keine signifikante Konsequenz für die menschliche Funktionsfähigkeit darstellen.

Diese Logik wird durch zahlreiche Studien gestützt, in denen Techniken wie PET- und fMRI-Scans zur Abbildung der Gehirnaktivität in Echtzeit sowie Lokalisierungen einzelner Neuronen auf Mikroebene und Stoffwechseluntersuchungen eingesetzt werden, die ebenfalls zeigen, dass kein Teil des Gehirns jemals völlig still oder inaktiv ist (9).

Man könnte also behaupten, dass ich zu viel darüber nachdenke, aber wenn es darum geht, mein Auto auf einem überfüllten Parkplatz zu finden, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich mindestens 11 Prozent meiner Gehirnleistung in Anspruch nehme.

Nur fünf Sinne…stimmt das?

Haben Sie jemals einen "sechsten Sinn" für etwas gehabt? Vielleicht haben Sie gespürt, wie Ihr „Spinnensinn“ einsetzte, als Gefahr nahte? Oder beherrschen Sie die Fähigkeit, das Klingeln der Mikrowelle vorherzusagen, selbst wenn Sie sich in einem anderen Raum befinden? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Auch Filme wie der psychologische Thriller „The Sixth Sense“ (Der sechste Sinn) basieren auf der Vorstellung, dass die typische menschliche Erfahrung auf lediglich fünf Sinne beschränkt ist. Aber ist das wirklich so?

Im Jahr 350 v. Chr. verfasste Aristoteles die Schrift „De Anima“, in dem er das Konzept vertrat, dass Menschen fünf Sinne besitzen – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten (3). Experten haben die letzten zwei Jahrtausende damit verbracht, diese traditionelle Theorie der fünf Sinne zu untersuchen und erkennen nun an, dass der menschliche Körper Hunderte verschiedener externer und interner sensorischer Eingaben durch verschiedene Rezeptoren wahrnehmen kann. Eine konkrete Definition für einen „Sinn“ entzieht sich jedoch weiterhin den Neurowissenschaftlern, von denen viele die Auffassung vertreten, dass eine vielfältige Palette von Sinnen anerkannt werden könnte.

Hier sind einige vorgeschlagene Sinne über die traditionellen fünf hinaus:

  • Equilibriozeption (Gleichgewicht): Aufrechterhaltung von Stabilität und Körperorientierung
  • Propriozeption (Kinästhesie): Die Fähigkeit eines Körpers, seine Position, Bewegungen und Handlungen zu spüren
  • Nozizeption: Ein Sinn für Schmerz oder mechanischen Stress
  • Thermozeption: Die Fähigkeit, Temperatur zu spüren

Empfinden Pflanzen Schmerz?

Im Gegensatz zu traditionellen schmerzempfindenden Organismen fehlen Pflanzen ein zentrales Nervensystem, Schmerzrezeptoren, Nerven oder ein Gehirn. Dennoch vertreten einige Forschende die Ansicht, dass Pflanzen eine einzigartige Form von Schmerz erfahren könnten.

Pflanzen verfügen über ein ausgeklügeltes Signal- und Kommunikationssystem, das es ihnen ermöglicht, auf ihre Umwelt zu reagieren, indem sie ihre Phänotypen verändern, einschließlich Duft, Farbe und Form, wenn sie Stressfaktoren wie hohen Temperaturen, Licht und Herbivorenangriffen ausgesetzt sind (4,5). Jüngste Forschungen haben sogar herausgefunden, dass Pflanzen unter Stress ultrasonische, luftgetragene Geräusche abgeben können, die Informationen über ihren Zustand verraten, wie zum Beispiel das Ausmaß von Verletzungen oder Dehydrierung (5).

Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vertreten die Theorie, dass Pflanzen möglicherweise eine Form subjektiver Erfahrung besitzen. Wenn Exemplare wie die Mimose (Mimosa pudica) in eine Art Schlaf versetzt werden können, deutet das nicht auch darauf hin, dass sie ansonsten wach sind? (2)

Diese Verhaltensweisen könnten jedoch eher als adaptive Reaktionen zum Überleben denn als Schmerz oder Bewusstsein gekennzeichnet werden. Elektrophysiologische Signalgebung, die das Übermitteln von Informationen als Reaktion auf einen Reiz beinhaltet, dient bei Pflanzen als unmittelbare physiologische Funktion und nicht als integrative Informationsverarbeitung wie bei Tieren (6). Dies deutet auf ein Fehlen von Bewusstsein bei Pflanzen und die Unfähigkeit, Schmerz zu empfinden, hin.

Sind Viren lebendig?

Was definiert Leben? Allgemein kann Leben durch einige Schlüsselmerkmale definiert werden: Reaktionsfähigkeit, Wachstum, Stoffwechsel, Energieumwandlung und Fortpflanzung (7). Weitere Lebensprozesse, die berücksichtigt werden sollten, sind Atmung, Ausscheidung und Ernährung, welche alle lebenden Organismen ausführen müssen, um am Leben zu bleiben.

Wie passen also Viren in den Baum des „Lebens“? Viren enthalten trotz ihrer Vielfalt einige gemeinsame Merkmale: genetisches Material (entweder DNA oder RNA), ein schützendes Kapsid und die Nutzung eines Wirts zur Replikation (10). Unter diesen Merkmalen stimmt nur die Fortpflanzung mit der herkömmlichen Definition von Leben überein, und selbst in diesem Aspekt unterscheiden sich Viren deutlich als obligate Parasiten. Darüber hinaus beteiligen sich Viren nicht an anderen Lebensprozessen, einschließlich Bewegung, Wachstum oder der Umwandlung von Nährstoffen in Energie oder Abfall. Ob Viren jedoch auf ihre Umgebung reagieren, ist nach wie vor umstritten, und Fragen wie „Gilt es als Energieverbrauch, wenn sie nur bei Kontakt mit dem Wirt aktiv werden?“ bleiben bestehen.

Eine weitere lebensähnliche Qualität, die in Betracht gezogen werden sollte, ist die Fähigkeit von Viren, sich im Laufe der Zeit zu entwickeln und genetische Veränderungen zu durchlaufen, ähnlich wie lebende Organismen. Laufende Forschungen, darunter die Entdeckung des Acanthamoeba polyphaga Mimivirus und des Tupavirus, stellen die traditionellen Definitionen von Viren und ihren Fähigkeiten weiter in Frage. Das Acanthamoeba polyphaga Mimivirus ist aufgrund seiner enormen Größe einzigartig unter den Viren und verfügt über etwa 2500 Gene, von denen einige für die DNA-Replikation und -Reparatur zuständig sind. Andererseits zeichnet sich das Tupavirus, das einen gemeinsamen Vorfahren mit dem Mimivirus teilt, dadurch aus, dass es fast alle für die Proteinproduktion erforderlichen Gene besitzt (1).

Obwohl Viren die derzeitigen wesentlichen Kriterien für Leben nicht erfüllen, entwickelt sich unser Verständnis von ihnen stetig weiter, und Forschende werden weiterhin der Frage nachgehen: „Sind Viren lebendig?“

 

Quellen:

  1. Abrahão, J. S., Silva, L., Silva, L. S., Khalil, J. B., Rodrigues, R. a. L., Arantes, T. S., De Assis, F. L., De Miranda Boratto, P. V., De Souza Andrade, M., Kroon, E. G., Ribeiro, B. M. et al. (2018). Tailed giant Tupanvirus possesses the most complete translational apparatus of the known virosphere. Nature Communications, 9(1).
  2. Dudíková, P. (2023). Paco Calvo, Planta Sapiens: O inteligenci rostlin. Profil, 24(1).
  3. Gregorić, P. (2007). De Anima III.1 425a27. In Oxford University Press eBooks (pp. 69–82).
  4. Holopainen, J. K., & Gershenzon, J. (2010). Multiple stress factors and the emission of plant VOCs. Trends in Plant Science, 15(3), 176–184.
  5. Khait, I. et al. (2023). Sounds emitted by plants under stress are airborne and informative. Cell, 186(7), 1328-1336.e10.
  6. Mallatt, J., Blatt, M. R., Draguhn, A., Robinson, D. G., & Taiz, L. (2020). Debunking a myth: plant consciousness. Protoplasma, 258(3), 459–476.
  7. Margulis, L., Sagan, C., & Sagan, D. (2023, December 2). Life | Definition, Origin, Evolution, Diversity, & Facts. Encyclopedia Britannica. https://www.britannica.com/science/life
  8. The Editors of Encyclopaedia Britannica. (2023, December 5). Do we really use only 10 percent of our brain? Encyclopedia Britannica. https://www.britannica.com/story/do-we-really-use-only-10-percent-of-our-brain
  9. Vreeman, R. C., & Carroll, A. E. (2007). Medical myths. BMJ, 335(7633), 1288–1289.
  10. Wessner, D. R. (2010) The Origins of Viruses. Nature Education 3(9):37
Die Autorin

Shannon Sindermann ist Mitarbeiterin bei Promega Corporation.

Neuveröffentlichung des Artikels auf Promega Connection und übersetzt aus dem Englischen mit Genehmigung der Promega Corporation.