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Tatort Zelle: Welches Potenzial die Zell- und Gentherapie birgt

5 min Peter Quick

Die Fachabteilung LSR hat Zell- und Gentherapie als Leuchtturmthema definiert und wird im Jahr 2024 jeden Monat einen Einblick in die faszinierende Welt dieser hochinnovativen Therapiemöglichkeiten geben. Denn: Zell- und Gentherapie ist DAS Zukunftsthema der Medizin.

Was verbirgt sich dahinter?

Die Zelle ist die kleinste Einheit des Lebens. Unser Körper besteht aus über 300 Zelltypen, die trotz desselben Grundbauplans in Feinstruktur und Funktion unterschiedlich sind. Auf den ersten Blick gleichen sich die Zellen nur in einem Gewebe - bereits jedes Organ für sich ist von sehr unterschiedlichen Zellen aufgebaut. Diese wirken allerdings so zusammen, dass das Organ seine Aufgabe erfüllen kann, und gleiches gilt für den gesamten Organismus.

Bis zu 6.000 Sterne kann man in dunklen, klaren Nächten mit dem bloßen Auge sehen. Doch die überwiegende Mehrzahl der 200 Milliarden Sterne allein in unserer Galaxie, der Milchstraße, sind nur mit Teleskopen sichtbar, die astronomische Dimensionen eröffnen. Die Billionen Körperzellen eines Menschen sind ebenfalls jeweils nur mit Hilfe von Licht- oder Elektronenmikroskopen sichtbar. 

Gleichzeitig sind die Zellen entscheidend für Leben und Tod. Im echten Leben wie auch in der Zell- und Gentherapie spielen sich biologische Kriminalromane ab. Entartete Zellen, die zu Tumoren führen, werden demaskiert. Defekte Gene in den Zellen, die zu Entartung führen können, werden repariert, stillgelegt oder durch funktionierende Gene ersetzt.

Mit dem zunehmenden Verständnis der Zell- und Genfunktionen erfüllt sich Schritt für Schritt die Hoffnung auf Heilungen bislang unheilbarer Erkrankungen. Die Biologie der Zellen und Gene führt zu einer medizinischen Revolution, zu möglichen Heilungen, die die grundlegende Ursache einer Erkrankung auflösen: Kausale statt symptomatischer Therapien.

Zunehmend verstehen wir „das Lied der Zelle“ (nach dem Bestseller von Siddhartha Mukherjee). Wenn es uns gelingt, noch weitere Strophen dieses Liedes zu singen, dann wird dies Glück für viele Menschen und ihre Familien bedeuten, und es birgt auch das Potenzial besonderer wirtschaftlicher Möglichkeiten in Deutschland und der Welt.

Denn was ist wertvoller – ein neues Auto oder ein gesundes Leben? Das Potenzial der Zell- und Gentherapie wird humanen Werten zu einer angemesseneren Wertschätzung in unserer Gesellschaft verhelfen. Diese entwickeln sich grundlegend auf den natürlichen Bausteinen unseres Lebens, den Zellen und ihren Genen.

„T-Zellen“ etwa stehen für solch einen Baustein. T-Zellen (oder auch T-Lymphozyten) sind weiße Blutkörperchen, die – im Unterschied zu unserem angeborenen Immunsystem - einen Teil unseres erworbenen Immunsystems ausmachen und für die zellvermittelte Immunität verantwortlich sind. Auch die „B-Zellen“ gehören zum erworbenen Immunsystem, sie sind jedoch für die durch Antikörper vermittelte Immunität verantwortlich.

In einem gesunden Gleichgewicht sorgen diese Bausteine zum Beispiel dafür, dass Tumorzellen als körperfremd erkannt und vernichtet werden. Doch bösartige Tumore können die Fähigkeit entwickeln, für das Immunsystem unsichtbar zu werden. Helfen wir den T-Zellen dabei, Tumorzellen wiederzuerkennen, dann lassen sie sich ähnlich effektiv abwehren wie bakterielle Eindringlinge.

Das erste „Wunder“ – CAR-T-Therapien

Emily Whitehead litt als Kind an einer bösartigen Erkrankung des blutbildenden Systems, einer „akuten lymphoblastischen Leukämie“ (ALL). Dabei werden im Knochenmark unreife weiße Blutzellen, B-Zellen, im Übermaß produziert, die unter anderem durch ein bestimmtes Eiweißmolekül an ihrer Oberfläche, „CD19“, gekennzeichnet sind.

Alle klassischen Behandlungsversuche waren gescheitert, Emilys Leukämie kam immer zurück und schritt fort, bis nahezu alle ihre Organe von bösartigen Zellen durchsetzt waren. Glücklicherweise kam sie Anfang Mai 2012 im Alter von sechs Jahren an das Kinderkrankenhaus von Philadelphia. "In unserem alten Spital wurde uns gesagt, dass wir Emily mit nach Hause nehmen und ihre letzten verbleibenden Tage mit ihr genießen sollen," erinnert sich der Vater der heute 18-Jährigen.

Die Klinik ist auf zelluläre Immunologie spezialisiert, und Emily erhielt eine Infusion mit ihren eigenen T-Zellen, die zuvor allerdings so verändert worden waren, dass sie die Tumorzellen an einem „Ziel-Antigen“, dem bereits erwähnten Oberflächen-spezifischen Protein CD19 erkannten. Doch wie war der Beginn dieses biologischen Kriminalromans möglich, wie gelingt die „Schulung der T-Zellen“?

Zunächst werden T-Zellen aus dem Blut gewonnen. Diese erhalten dann außerhalb des Körpers den genetischen Bauplan für ein komplexes Eiweißmolekül, das die T-Zellen damit selbst bauen können. Mithilfe dieses Proteins erkennen die T-Zellen später wieder im Körper des Patienten gezielt die Tumorzellen, docken an diese an und töten sie ab. Dieses Protein wird als „chimärer Antigenrezeptor (CAR)“ bezeichnet, und die um das „CAR“ bereicherten T-Zellen werden jetzt „CAR-T-Zellen“ genannt – sie werden zur Munition im Kampf gegen die Krebszellen!

In einem nächsten Schritt werden die CAR-T-Zellen zur Vermehrung angeregt. Ferner wird der Patient mit einer Chemotherapie so behandelt, dass nicht allein die Tumorzellen zurückgedrängt werden, sondern auch das körpereigene Immunsystem. Danach werden die veränderten T-Zellen dem Patienten über eine Infusion wieder zugeführt, und aufgrund der vorbereitenden Chemotherapie können sich die CAR-T-Zellen jetzt erfolgreich im Körper vermehren.

Entscheidend im Kampf gegen die Krebszellen ist das CAR, der chimäre Antigenrezeptor – so bedeutsam wie das Zielfernrohr auf dem Gewehr eines Scharfschützen! Ein CAR besteht zumindest aus drei Teilen: Einem Antikörperfragment, das das CD19-Antigen außerhalb der Oberfläche der T-Zelle genau erkennt und bindet (es „dockt am Antigen an“), einer zweiten Struktur, die mit diesem Antikörperfragment verbunden ist und in die Oberflächenmembran der T-Zelle so hineinreicht, dass das Antikörperfragment verankert ist, und mindestens einer dritten Komponente, die das Signal „Feind erkannt“ in die T-Zelle vermittelt und sie aktiviert – jetzt wird scharf geschossen.

Emily erhielt über drei Tage hinweg Infusionen mit ihren CAR-T-Zellen, bis sie hohes Fieber bekam und ihr Körper auf ein Multiorganversagen zusteuerte. Das Team der Universität suchte intensiv nach der Ursache, bis schließlich eine 1.000-fache Erhöhung eines sogenannten „Zytokins“, Interleukin 6 (IL-6), gemessen wurde. Zytokine sind Botenstoffe, die bei einer Reaktion des Immunsystems gebildet werden, und während die CAR-T-Zellen die Krebszellen angriffen, schütteten sie gleichzeitig Unmengen dieses Signalstoffes aus, der ihren Körper in Panik versetzte – Emily erlebte einen „Zytokin-Sturm“ als Nebenwirkung der Therapie.

Glücklicherweise war wenige Monate zuvor einer der ersten IL-6 Blocker als Arzneimittel verfügbar geworden. Emily wurde dieser IL-6 Hemmstoff gespritzt. Zwei Tage später, an ihrem siebten Geburtstag, wachte Emily auf. Der Krebs war weg, Emily war und ist seitdem vollkommen gesund.

Der Autor

Peter Quick war viele Jahre Vorstandsvorsitzender der Fachabteilung LSR und tätig für das Mitgliedsunternehmen Promega GmbH. 

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Zukunftsthema Zell- und Gentherapie