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Wie Sequenziertechnologien das Buch des Lebens entschlüsseln

5 min Uwe Rempe

Alle Lebewesen auf unserer Erde eint eine besondere Gemeinsamkeit: ihr individuelles Erbgut, welches von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das Erbgut wird daher auch als „Buch des Lebens“ bezeichnet. Als Alphabet dienen lediglich vier Buchstaben – die sogenannten Basen A, C, G und T. Diese Basen werden in einem Code in unterschiedlichsten Kombinationen aneinandergereiht und kodieren Gene und deren Regulation – so wie aus Buchstaben ganze Wörter, Sätze und Texte entstehen.

Das gesamte Erbgut des Menschen, auch Genom genannt, umfasst ca. 3,2 Milliarden „Buchstaben“ oder Basenpaare (AT oder CG). Die Entschlüsselung, also das Lesen, des ersten individuellen menschlichen Genoms war ein internationales Mammutprojekt, welches 1990 begann, 13 Jahre dauerte und drei Milliarden US-Dollar verschlang.

Aber warum interessieren sich Forscher für das Genom eines Menschen und der Lebewesen im Allgemeinen?

Das Erbgut wird an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Schon bei einfacher Betrachtung wird deutlich, dass diese Nachkommen mit ihren Vorfahren zwar verwandt, aber nicht identisch sind. Das Buch des Lebens wird also scheinbar an einigen Stellen umgeschrieben beziehungsweise modifiziert. Dieser Prozess wird auch Evolution genannt und sorgt dafür, dass sich Lebewesen an veränderte Umweltbedingungen anpassen können. Viele dieser Veränderungen werden vom Organismus toleriert und nicht selten ignoriert. In einigen Fällen kann es aber auch Stellen im Buch betreffen, die für den Organismus wichtig sind. Als Folge von Veränderungen an solchen Stellen entstehen Krankheiten, deren genetischer Ursprung oftmals lange unerkannt bleibt.

Darüber hinaus treten auch im Laufe eines Lebens regelmäßig Veränderungen im Erbgut auf, zum Beispiel bei der Zellteilung, die vom Organismus üblicherweise erkannt und repariert werden. Sind diese Veränderung jedoch massiv oder betreffen hochwichtige Steuerungsstellen, dann können die Reparaturmechanismen nicht mehr vollständig wirken, so dass die Veränderungen dauerhaft bleiben und, im schlimmsten Fall, Krankheiten wie Krebs verursachen.

Das Lesen des Genoms und seiner Bestandteile gibt uns also Einblick in die Evolution der Lebewesen sowie Aufschlüsse über die Entstehung von Krankheiten, um daraus neue, gezielte Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Wie wird das Genom eigentlich gelesen?

Die Fachleute sprechen von der Sequenzierung des Erbgutes. Dieser Begriff leitet sich vom Lesen der Abfolge der Buchstaben A, C, G und T ab, also der Sequenz. Greift man die Analogie des Buches des Lebens auf, würde man also Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz usw. lesen.

Etwa 35 Jahre nach der Entschlüsselung der molekularen Struktur des Erbmoleküls DNA entwickelte Frederick Sanger eine Analysemethode, um die DNA-Sequenz zu lesen, wofür er 1980 seinen zweiten Nobelpreis für Chemie bekam. Seine Methode wurde stetig verbessert, weiterentwickelt und ist heutzutage hochgradig automatisiert. Die sogenannte Sanger-Sequenzierung von Genen ist fester Bestandteil in Forschung und Diagnostik.

Diese Art von Sequenzierung wird jedoch sehr zeit- und kostenintensiv, wenn man größere Bereiche oder gar ganze Genome lesen möchte. Man stelle sich vor, dass der Umfang eines menschlichen Genoms dem Inhalt von ca. 8.000 Taschenbüchern entspricht! Schneller geht es, wenn man mehrere Abschnitte des Buches gleichzeitig lesen kann. Und genau das wird heutzutage gemacht. Man spricht dabei von Hochdurchsatzsequenzierung oder Sequenzierung der neuesten Generation (Next Generation Sequencing – NGS). In Kombination mit Fortschritten bei der Effizienz der biochemischen Durchführung der Sequenzierung sowie der Messung der Buchstaben durch moderne optische oder nicht-optische Detektoren konnte man in den vergangenen 20 Jahren die Kosten der Sequenzierung eines menschlichen Genoms von drei Milliarden US-Dollar auf unter 600 US-Dollar senken. Zeitgleich wurde die Dauer der Sequenzierung von 13 Jahren auf unter 24 Stunden reduziert.

Mittlerweile wurden mehrere Millionen Genome von Menschen und anderen Organismen sequenziert. Die technologischen Fortschritte und der mögliche enorme Wissenszuwachs führen zu einem weltweiten Boom bei der Erforschung der Vielfalt von Lebewesen, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Anpassung an Umweltbedingungen sowie in der klinischen Forschung bei der Erkennung von Ursachen und der Entdeckung von Krankheiten. Forscher gehen davon aus, dass die Sequenzierung bei der Erforschung, Bekämpfung und Prävention von Krankheiten wie Krebs in den kommenden zehn Jahren einen bedeutsameren Fortschritt bringen wird als alle Jahre zuvor. Für einen noch breiteren Zugang und mehr Anwendungsmöglichkeiten arbeiten Unternehmen weltweit mit Hochdruck an der stetigen Verbesserung der Technologien im Hinblick auf Präzision, Geschwindigkeit und Kosten.

Durch jahrzehntelange Forschung und Weiterentwicklung der Sequenziertechnologien haben wir heute die Möglichkeit, die genetischen Hintergründe des Lebens besser zu erkennen, zu beschreiben und zu interpretieren. Von einzelnen Genen, Genabschnitten bis hin zu ganzen Genomen existiert ein breites Spektrum an Methoden und Technologien.

Die Autoren

Dr. Oliver Goldenberg ist Mitarbeiter bei dem Unternehmen Illumina GmbH. Der Artikel entstand in Kooperation mit Dr. Franziska Freund. 

Neuveröffentlichung des Artikels aus der LSR-Imagebroschüre „Wir leben Forschung“.